Karl Waldmann wurde im vorletzten Jahrzehnt des 19. Jahrhundert bei Dresden
geboren. Seine Spur verlor sich in einem Arbeitslager in der UDSSR, wie auch die
seiner russischen Lebensgefährtin. Er ist eine der letzten Entdeckungen des
Konstruktivismus und mit Sicherheit eine wichtige Entdeckung.
Kurz nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahre 1989, entdeckt ein Journalist -
ein großer Kunstliebhaber - auf dem berühmten " Polenmarkt " von Berlin einen
Verkäufer, der sich ein wenig von den vielen anderen Händlern unterscheidet, die
dort auf dem staubigen Boden hocken. Dieser besagte Händler hatte seine Ware
nämlich auf der Ladefläche seines kleinen Lieferwagens ausgestellt, einem Modell
aus den 40ern. Ohne Dach wurde unter freiem Himmel, über den KÖpfen der
Menschenmenge ein Durcheinander ausgestellt von Porzellangegenständen, die
aus einem Museum zu kommen schienen, Gemälden, Nippfiguren und bis hin zu
Dosen mit Kaviar. Sein Stand wurde belagert von Ausländern - Europäern,
Asiaten, Amerikanern - von denen es in diesen Tagen aufgrund des Mauerfalls
viele in der Stadt gab.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass es 1989, seit dem Fall der Mauer, eine
bedeutende Migration von Osten nach Westen gab und dass es für viele
Emigranten aus dem Osten eine gute MÖglichkeit darstellte, ein bisschen Geld zu
verdienen, indem sie verschiedene Sachen wie Armbanduhren von der Armee,
Abzeichen, Militärwerkzeuge, russische Fotoapparate, Kaviardosen, Antiquitäten,
Regime-Symbole usw. verkauften. So also bemerkte jener Journalist ein paar
verklebte Papiere, die zwischen Aktendeckel aus brauner Pappe versteckt waren,
bei denen es sich offensichtlich um Werke handelte, die vom russischen
Konstruktivismus inspiriert waren. Als Signatur ließen sich die Initialen "K.W."
entziffern.
Als der Journalist Interesse für diese Angelegenheit zeigte, bot ihm der Verkäufer
an, am späten Nachmittag wieder zu kommen, damit er ihn in Richtung Dresden
mitnehmen kÖnne, um sich noch andere Arbeiten dieser Sorte anzusehen. Dort,
im Schein einer Lampe, die nur ein paar staubige Strahlen abgab, entfaltete sich
ein Schauspiel aus Bildern aus der deutschen und polnischen Romantik und dem
Expressionismus, sowie eine Anzahl von modernistisch inspirierten Porzellangegenständen,
unter anderem aus Meissen, sowie Art Déco mit der Herkunft
"Made in the USSR". Sie waren mit kyrillischen Signaturen gezeichnet, die für den
Kunstliebhaber leider nicht lesbar waren.
Nicht zu Unrecht vermutete dieser nur, dass es sich hierbei um aus einem
Museum entwendete Werke handeln kÖnnte; also blieb er misstrauisch. In einer
Ecke waren zahlreiche Werke von Karl Waldmann gestapelt, denen der Verkäufer
keine rechte Beachtung schenkte, da er vornehmlich an dem Verkauf seiner
Porzellansachen interessiert war.
Nach Karl Waldmann befragt, hatte der Händler nicht viel zu sagen, außer dass
dies ein alter Onkel gewesen sei, versehen mit dem Ausruf "Ach ja, der
Verrückte!", und von dessen Verschwinden mit seiner Frau, einer russischen
Künstlerin, er nur kurz erzählte. - "Das ist lange her, sie mussten alles
zurücklassen". Der Mann war nicht sehr gesprächig, um nicht zu sagen, stumm,
was das Thema dieses entfernten Cousins betraf. So gab es keinen Grund für
den Journalisten, der nur eilig die Bilder kaufen wollte, noch Weiteres über das
Leben von diesem "Waldmann" herauszufinden.
Um das Gesamt-Oeuvre zu erwerben, wurde für Februar ein Treffen im Curator
Hotel in Berlin ausgemacht, einige der Arbeiten Waldmanns wurden sofort in einer
großen Ausstellung gezeigt, die vom franzÖsischen Kulturministerium zu dieser
Zeit unterstützt wurde. Diese fand in Strassburg statt: mit dem Titel "Berlin Berlin"
(Februar 1990).
Diese Entdeckung blieb relativ unbekannt bis zum Jahr 2000, als sich der neue
Besitzer der Werke, der sich währenddessen für deren Inhalt zu begeistern
begonnen hatte, sich auf die Suche nach einer Galerie machte, um sie
auszustellen.
Es folgten gründliche Nachforschungen durch die Galerie, die es ermÖglichte,
Werke in Deutschland in der Dresdener Region wiederzufinden, sowie in Italien,
Belgien, der UdSSR, in der Ukraine und in den USA. Heute sind mehr als 900
Werke inventarisiert, Werke von fantastischem bildlichen Reichtum, die von 1915
bis in die 50er Jahre reichen. Die Spuren ihrer Herkunft führten in den meisten
Fällen nach Dresden.
Seit dem Jahr 2001 wurde die Frage nach dem Verbleib des Verkäufers wieder
von Interesse, da dieser ja eine direkte familiäre Verbindung zu dem Künstler
besaß und somit all jenes berichten kÖnnte, was der Journalist damals vor 11
Jahren nicht in Erfahrung gebracht hatte. Leider war es nicht mehr mÖglich,
diesen Einwohner der Dresdner Umgebung ausfindig zu machen, und alle Schritte
in diese Richtung waren bis heute ergebnislos. Es ist durchaus mÖglich, dass
dieser "Onkel" inzwischen verstorben ist, wenn man sein bereits älteres Aussehen
im Jahr 1989 in Betracht zieht.
Es bleibt außerdem zu präzisieren, dass sich im Zuge unserer Inventur die Werke
als die von Karl Waldmann eindeutig identifizieren ließen. Einige von ihnen sind
vollständig mit "Karl Waldmann" signiert, die Mehrzahl allerdings nur mit den
Initialen "K.W.". Ob sich hier hinter die Absicht verbarg, seinen Namen zu
verstecken? Jeder, der zu dieser Zeit im Osten gelebt hat, weiß, dass eine
"Signatur" oder sogar ein "Datum" eine Gefahr für seine Sicherheit darstellen
konnte.
Die Verwendung eines Pseudonyms war sogar sehr verbreitet. Ein Werk zu
kreieren oder zu besitzen, das vom Regime nicht gebilligt wurde, bedeutete eine
Abspaltung von den offiziellen Künstlerzirkeln. Insbesondere, wenn das Werk eine
politische Kritik am Regime transportierte oder eine verdächtige künstlerische
Ausrichtung (wie zum Beispiel Erotik) verkÖrperte, bedeutete dies eine echte
Lebensgefahr für denjenigen. Um ein jüngeres Beispiel zu nennen: Der
tschechische Fotograph Jan Saudek datierte seine Werke, die einen
pornographischen Zug hatten, auf 100 Jahre vor ihrer Fertigstellung. Dies erlaubte
ihm zu behaupten, dass sie nicht von ihm seien und er sie nur gefunden habe.
Wir hatten also 900 Fotomontagen, Gouaschmalereien und verschiedene
Collagen - Originale oder Fotos davon - mit einer klaren Identität, mit einem
perfekten Sinn für Konstruktion und mit einer einer Palette an FarbtÖnen, die Karl
Waldmann von Schwitters, Heartfield, Haussmann, Rodchenko u.a.
unterschieden, auch wenn sie ihnen in ihrer Thematik häufig sehr ähnelten.
Bis zum heutigen Tage besitzen wir keine näheren Informationen über sein Leben
und seine PersÖnlichkeit. Aller Wahrscheinlichkeit nach war Karl Waldmann aus
existentiellen und politischen Gründen kein Öffentlich bekannter Künstler, der sich
auf eine bestimmte Schule berufen hätte, und der sich als solcher Öffentlich
bezeichnet hätte. Die wenigen Informationen, die wir über ihn haben, stellen
keinen Einzelfall in der deutschen Kunst dieser Zeit dar, die reichlich ähnliche
Fälle vorzuweisen hat. Wir kÖnnen da das Beispiel von Else Lasker Schüler
(deutsche Dichterin im Anfang des 20. Jahrhunderts) erwähnen, bei der es sehr
schwierig ist, eine Skizze ihrer Biographie zu entwerfen, da nur wenige Daten und
Fakten bekannt sind. Die Nazis haben nicht nur den grÖßten Teil der sie
betreffenden Dokumente vernichtet, sondern auch die Zeugen - ihre Freunde -
sind fast alle verschwunden. In Deutschland während der Herrschaft der Nazis
und später in der DDR unter dem sowjetischen Regime, das bis 1989 andauerte,
gab es wenig Chancen, eine politische engagierte Kunst zu schaffen. Sehr viele
Künstler aus dieser Region, die ihre Kunst heimlich in ihren Ateliers schufen,
werden für immer unbekannt bleiben. Die Nachkriegszeit und der Kalte Krieg
stellten einen bleiernen Deckel für die Intellektuellen im Osten dar, und der Kult
des Geheimen existiert bis heute. In der zeitgenÖssischen Malerei war dies
ebenfalls der Fall. Noch am Tag des Mauerfalls wurden Hunderte von
Künstlerateliers von Journalisten und anderen Kunstliebhabern aufgestÖbert,
deren Entdeckung amerikanischen Sammlern regelrechte Festtage bescherte.
Es gibt noch ein weiteres Beispiel, dass sich aus einem anderen Bereich der
Kunstgeschichte anzuführen lohnt: nämlich jenes vom "Verschwinden" des
erotischen Kabinetts von Katharina II aus Russland (siehe den Film von Peter
Woditsch), von deren Existenz mehrere Personen Beweise besitzen, und sich
dennoch nach 1945 in Luft aufgelÖst zu haben scheint. Obwohl nur 50 Jahre
vergangen sind, ist es heute ausgesprochen schwierig, verlässliche Informationen
von direkten Zeugen oder von zeitgenÖssischen Konservatoren zu bekommen, so
weitgehend, dass einige behaupten, dass dieses Kabinett, obwohl es real existiert
hat, nicht mehr als eine Legende sei.
Auch ohne stichhaltige Einzelheiten aus der Biographie Karl Waldmanns verfügen
wir doch über eine sehr schÖne Sammlung, die durch ihre Qualität beeindruckt.
Ein fundiertes Studium wäre darüber nÖtig, um es uns durch Vergleiche und
Verknüpfungen ermÖglichen würde, auf diese Weise ein "Phantombild" vom Esprit
dieses Künstlers zu erstellen.
Dem Historiker oder dem Konservator, der sich mit dem biographischen Stoff der
Biographie, würde ich antworten, dass wir die Werke besitzen und die
intellektuelle Leistung nun darin besteht, sie zu verstehen, sie gelten zu lassen
und sie zu zeigen, auch wenn dieses Verständnis nur ein bruchstückhaftes oder
subjektives bleibt. - Sowie auch andere biographische Einzelheiten den Künstler
in seiner eigenen Identität nicht zum Leben wiedererwecken kÖnnten.
Das Werk
Karl Waldmanns Werk ist ziemlich vielfältig und kann nicht mit nur einer einzigen
Bewegung verbunden werden. Die Jugendwerke - abstrakte Kompositionen, die
ihren Individualismus deutlich machen - sind den Collagen von Kurt Schwitters
als Analogie verwandt sowie auch den frühen Collagen von Rodchenko oder
Majakowski. Sie verwenden Zeitungsausschnitte, Papiere, Reklamezettelchen,
Stoffreste. Diese Werke erinnern an die Bewegungen, die dem Suprematismus
vorangingen. Es muss dabei im Gedächtnis behalten werden, dass K. Schwitters
ebenfalls von 1913 bis 1917 in Dresden residierte und dass diese Stadt sowohl für
deutsche als auch für russische Künstler ein Terrain des künstlerischen Schaffens
und der Durchreise war.
Ebenfalls in Dresden befand sich das große ethnographische Museum, das einen
Teil des Schaffens hin zu einer Rückkehr zu primitiven Formen ausrichtete oder
wo zum Teil der Primitivismus sogar entstand (siehe Kirchner und Heckel). Diese
Bemerkung ist von Wichtigkeit, da schwarze Statuen in mehrere Fotomontagen
von Waldmann eine Rolle spielen und somit die primitivistische Rhetorik
miteinbeziehen, die durch den Kritiker Carl Einstein 1915 entwickelt wurde. Durch
seinen ethnographischen Blick sowohl auf die Form als auch auf das Sujet,
realisiert auch Karl Waldmann die Vereinigung zwischen der Modernen Kunst und
der primitiven Skulptur.
Nach dieser abstrakten Periode sind die Werke sehr bald konstruktivistisch,
dadaistisch, und sogar surrealistisch inspiriert. Er widmet sich ausschließlich der
Fotomontage, deren Urheberschaft man seit 1922 Raoul Hausmann zuschreibt.
Diese Epoche ist sehr bewegt: zwischen dem Chaos des Ersten Weltkrieges und
der Revolution, dem Hin und Her und den Gewaltausbrüchen während der
Weimarer Republik ist der Nationalsozialismus im Entstehen begriffen, und die
Oktoberrevolution in Russland feiert ihren Triumph. Karl Waldmann ist mit einiger
Sicherheit ein Wegbegleiter der Revolution von 1917 und pflegt tiefgehende
Bekanntschaften mit den russischen Künstlern, die sich ihr angeschlossen haben:
Rodchenko, Majakowski, Lissitsky, Malevitch, Klucis, usw. Er ist niemals
"propagandistisch” in seinen Werken - im Unterschied zu Heartfield - und das ist
der Grund, weshalb uns die Bedeutung vieler Fotomontagen verborgen bleibt.
Allerdings stellt er sich als "großer" Beobachter und Denunziant heraus. Der
Künstler sieht, hÖrt, liest - und illustriert dann mittels der Collage seine
Konzeption von der Politik, der Gesellschaft, der Kunst (Film, Literatur, Theater
usw.). Die Kenntnis von all diesen Bereichen ist entscheidend für die intime
Wahrnehmung von Karl Waldmanns Collagen.
Die Themen
Wie für die deutschen Expressionisten ist auch Waldmann das Thema der Stadt
wichtig. Eine Stadt, in die sich die Modernität durch die Präsenz der Fabriken, der
Schornsteine, der großen Gebäude, der Wolkenkratzer und des Rauchs
einschreibt. Eine metallische Stadt, die in die KÖrper der Individuen eindringt, eine
Stadt wie eine GÖttin - verzaubernd und unheilvoll zugleich. Im Unterschied zu
den Futuristen, setzt Karl Waldmann die Modernität in den Vordergrund,
allerdings um sie zu fürchten und sie anzuprangern.
Er ironisiert sie, ironisiert den "Wohlstand" und den Wert der "Fee der Elektrizität".
Die Stadt und die Maschine werden als eine kriminelle und teuflische Einheit
betrachtet. Wie viele andere aus seiner Generation ist Karl Waldmann fasziniert
von Amerika, und das erklärt den Umstand, dass sich viele seiner Werke auf die
Stadt New York beziehen, wo "Luftschiff", "Kran", "Waffe", "Elektrischer Stuhl"
gegenwärtig sind, Vorläufer von dem Werk Andy Warhols: dies sind die Wurzeln
einer Dschungel-Stadt, wo das Tragen von Anzügen obligatorisch ist. Die meist
eingesetzten Farben sind Schwarz und Rot, die Farben des Todes und des
Blutes.
Dieser Blick auf die Stadt und die Maschine lässt sich neben ein anderes sehr
präsentes Thema in Karl Waldmanns Gesamtwerk stellen: das Kino. In mehren
seiner Werke ist die Verbindung zu Fritz Lang ganz offensichtlich ("Metropolis",
"M") oder auch zu Chaplins "Moderne Zeiten", "Lichter der Großstadt" oder "Der
große Diktator". Die Schauspielerinnen, vor allem Amerikanerinnen, umkreist von
Metall oder Rauchwolken kÖnnen als perfekte Ikonen des Konstruktivismus
betrachtet werden: Marlene Dietrich, Katherine Hepburn, Ruby Keeler, Joan
Crawford, Claudette Colbert, Brigitte Heim, usw. Diese Frauen von mächtiger
Anziehungskraft machen die leidenschaftliche Beziehung Karl Waldmanns zum
Kino deutlich.
So verstärkt die Präsenz dieser außergewÖhnlich ausdrucksstarken
Schauspielerinnen noch ein weiteres Thema, das wiederholt auftritt: das Thema
der "Frau" im Allgemeinen. Die Frau wird überall (in 300 von 900 inventarisierten
Werken) als eine ehrgeizige Notwendigkeit dargestellt die an dem einzigartigen
Abenteuer jeder einzelnen Fotomontage teilnimmt. In anderen Werken tauchen
diskretere oder subtilere Frauendarstellungen auf, die jedoch nie ganz ihrer
Hauptrolle entkommen.
Die Frau wird als SchÖnheit gesehen, die Frau als Propagandawerkzeug, die
Frau, die sowohl von den Nazis als auch vom kommunistischen Regime als
Vorbild für Tradition oder Revolution " benutzt " wird. Eine Frau, die häufig von
einem großen Rad umgeben sind, als ob sie es sei, die die Welt weiterdreht oder
diese anstelle der Diktatoren weiterdrehen müsste. Man darf nicht glauben, dass
Karl Waldmann das Nazi-Regime und das sowjetische Regime auf eine Stufe
stellte, ganz im Gegenteil. Aber dieses Thema der Frau, die meiner Meinung nach
sein Werk in seiner Ganzheit strukturiert, findet sich in allen hier genannten
Themen wieder und im weiteren Sinne ebenso in dem politischen Gehalt von Karl
Waldmanns Werken.
Wenn auch nicht alles von Karl Waldmann strenggenommen politisch ist, muss
doch jedes seiner Werke durch ein weites politisches und kulturelles Raster
gelesen werden. Karl Waldmann ist auf jeden Fall ein engagierter Künstler, der
vor allem Anderen auf der Seite der Nazi-Gegner zu verorten ist. Mehrere Werke
geißeln also Hitler und seine Gefolgsleute und machen sich mit viel Zynismus
über die Rassentrennung lustig. Sie weisen auf die Apokalypse und die
angekündigte Chronik der Shoah hin. Einige Werke, die nach dem Krieg
entstanden, zeigen auch die Shoah in einem eisigen Bildaufbau.
All das, was den Glanz oder das Grauen des Nazi-Regimes ausmacht - wie z.B.
der KÖrperkult, die Musik, Wagner, Siegfried, die Architektur, die Maschine und
die Kriegsfilme, die "EndlÖsung", Hannah Reich, die Rassenmedizin usw. - all das
explodiert in seinen Kompositionen von architektonischer Präzision.
Wie auch Hannah HÖch verwendet Karl Waldmann Tiere in einer dadaistischen
Perspektive, um Kritik herauszufordern. Überall gibt es Affen, armselige Primaten,
die nicht denken und die vom Künstler in direkte Beziehung zu den Nazis gestellt
werden.
Allerdings gilt es hier noch herauszufinden, ob das Tier tatsächlich den
armseligen Primaten ohne Sprache symbolisiert oder ob es sich hierbei nicht
vielmehr um eine klare Aufforderung des Künstlers zur Rückkehr zum primitiven
Bewusstsein handelt.
Aber der von Karl Waldmann angeklagte Nationalsozialismus hat noch eine tiefer
liegende Quelle, nämlich in der Ordnung und Sauberkeit, ja, in der Hygiene - des
KÖrpers und des Geistes - die missinterpretiert von eben diesem Regime
propagiert wird. Dies führt uns zu dem Thema der Hygiene, das Karl Waldmann
sehr wichtig ist.
1912 entsteht ein Museum der Hygiene in Dresden. Es existiert im Übrigen bis
heute. Seit Anfang des Jahrhunderts kommt die sanfte Medizin auf, Meerwasserund
Schwefelbäder, Sanatorien, die Pflege, KÖrperkult und Aufmerksamkeit für
den KÖrper verbreiten. Mehrere Fotomontagen spielen auf diesen Begriff der
Hygiene an. 1930 findet eine große Ausstellung zu diesem Thema in besagtem
Museum statt. Der russische Pavillon wird von Lissitsky realisiert. Das heutige
Museum besitzt noch Dokumente zu dieser Ausstellung (obwohl die Stadt Dresden 1945 durch
einen Bombenangriff fast gänzlich zerstÖrt wurde). Mehrere Fotomontagen illustrieren
aber diese Ausstellung, indem sie Logos aus dieser Zeit verwenden. Wie man
weiß, sollte dieser Begriff von der Hygiene bald von den Nazis umfunktioniert
werden um, als "Rassenhygiene" zu enden.
"Normales Kind " nennt Waldmann eine seiner Fotomontagen, in der auf der
einen Seite ein blondes Kind und auf der anderen Seite die " Hottentotten-
Venus " (eine schwarze Frau, die in Paris ausgestellt war) zu sehen sind, und
dazwischen: Adolf Hitler. Mehrere Werke prangern im Übrigen diese Medizin und
die Rassentrennung an, in dem häufig schwarze Frauen dargestellt werden. Die
Verbindung von Juden und Schwarzen geht bei Waldmann so weit, dass einige
dieser Frauen HÖrner auf der Stirn tragen (wie bei einem Okapi oder wie
Stoßzähne vom Elefanten) und erinnert so daran, dass die Darstellung von Moses
diesen als Folge einer falschen Bibelübersetzung aus dem Hebräischen ins
Lateinische nach der Entgegennahme der Gesetzestafeln mit HÖrnern zeigt und
dies seit dem 15. Jahrhundert (siehe die Skulptur von Michelangelo). Es ist auch
im Hinblick auf die Darstellung des Teufels in der christlichen Ikonographie zu
einer antisemitischen Geste, einen Juden zu fragen, wo er seine HÖrner gelassen
habe.
Dieses Thema der Hygiene, das zum Teil mit dem KÖrperkult verbunden ist, lässt
sich auch in seiner Kritik am sowjetischen Regime wiederfinden, wo Paraden und
PersÖnlichkeitskult das Leben der einzelnen Individuen und auch den Sozialismus
im Allgemeinen entwerten. In seiner Kritik am Sozialismus ist Karl Waldmann
zweifellos mit Rodchenko zu vergleichen, der, obwohl er offiziell anerkannter
Künstler des Regimes war, aufgrund seiner Äußerungen über die Regierung
niemals Zugang zu dem "hÖchsten Status" der Künstler in der UdSSR bekam. Er,
der Zirkus und Luftakrobaten sehr liebte, schrieb 1939: " Vielleicht braucht der
Sozialismus am Ende doch weder Bauchredner, noch Zauberkünstler, keine
Jongleure, fliegende Teppiche oder Feuerwerke, keine Planetarien, Blumen oder
Kaleidoskope". Er fragte sich, ob es in seinem Land nicht nur Platz für Politik und
Propaganda für die Themen "von oben" gebe, sodass gar kein Raum mehr für
Freude, Luftakrobatik, Licht und Bewegung bleibe. Diese Sicht der Dinge, diese
Kühnheit, diese Offenheit und diese Frechheit, die wir auch bei Majakowski
finden, sind auch bei Karl Waldmann vorhanden. Dieser macht auch widerholt
auftauchende Anspielungen auf den Dichter, der 1930 Selbstmord beging. Falls
Karl Waldmann Sympathisant der Revolution ist, bleibt er diesbezüglich doch
ironisch. Besonders im Hinblick auf die Wendung, die sie mit der Zeit genommen
hat. So ist auf einer Fotomontage die Polizeiakte von Stalin, der 1907 wegen
Banküberfalls verhaftet wurde, zu sehen, zusammen mit einem feixenden Al
Capone über seinem Kopf. Eine solche Fotomontage lässt uns unmittelbar
verstehen, wie dieser "Verrückte", dieser "Karl Waldmann" in einem Lager enden
konnte.
Erst vor Kurzem machte mich ein Freund von Karl Waldmanns Werk darauf
aufmerksam, dass Karl Waldmann mÖglicherweise den Sozialismus auch
feminisierte mit dem sich durch die Gesamtheit seines Werkes durchziehenden
Thema der Frau, die um die "humanistische Hygiene" besorgt ist.
So zeigt eine Fotomontage eine Frau, die Lenins Mund mit Lippenstift nachzieht.
Diese überspitzt mechanisierte Frau trägt aber gleichzeitig einen Handschuh aus
Stahl (oder einem dicken Stoff), der sie hygienisch vor der Berührung mit Lenins
Mund schützt.
Karl Waldmanns Werke bearbeiten durchaus noch andere Themen: historische
Fakten, Anspielungen auf Romane oder Gedichte, Frauen, die er besonders gut
gekannt hat. "Diese liebe Hannah...", die er am Anfang eines Heftes erwähnt, das
20 Fotomontagen enthält; oder Saharet, eine Kabarett-Sängerin im Berlin der
30er Jahre. So reich wie dieses Werk ist und wie wenig fundierte Untersuchungen
dazu betrieben worden sind, so schwer ist es, hier alles aufzulisten.
Einige sprechen in Bezug auf Karl Waldmann von einem "Mysterium" oder auch
von bestimmten Werken, die absolut rätselhaft bleiben aufgrund eines fehlenden
Textes oder eines "Zeichens" des Künstlers. Ich würde sein Werk jedoch eher mit
einem "Roman" vergleichen, der wie ein Essay über den Wahnsinn des 20.
Jahrhunderts aufgebaut ist.