KARL WALDMANN UND DER KONSTRUKTIVISMUS  


Karl Waldmann wurde im vorletzten Jahrzehnt des 19. Jahrhundert bei Dresden geboren. Seine Spur verlor sich in einem Arbeitslager in der UDSSR, wie auch die seiner russischen Lebensgefährtin. Er ist eine der letzten Entdeckungen des Konstruktivismus und mit Sicherheit eine wichtige Entdeckung.

Kurz nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahre 1989, entdeckt ein Journalist - ein großer Kunstliebhaber - auf dem berühmten " Polenmarkt " von Berlin einen Verkäufer, der sich ein wenig von den vielen anderen Händlern unterscheidet, die dort auf dem staubigen Boden hocken. Dieser besagte Händler hatte seine Ware nämlich auf der Ladefläche seines kleinen Lieferwagens ausgestellt, einem Modell aus den 40ern. Ohne Dach wurde unter freiem Himmel, über den KÖpfen der Menschenmenge ein Durcheinander ausgestellt von Porzellangegenständen, die aus einem Museum zu kommen schienen, Gemälden, Nippfiguren und bis hin zu Dosen mit Kaviar. Sein Stand wurde belagert von Ausländern - Europäern, Asiaten, Amerikanern - von denen es in diesen Tagen aufgrund des Mauerfalls viele in der Stadt gab.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass es 1989, seit dem Fall der Mauer, eine bedeutende Migration von Osten nach Westen gab und dass es für viele Emigranten aus dem Osten eine gute MÖglichkeit darstellte, ein bisschen Geld zu verdienen, indem sie verschiedene Sachen wie Armbanduhren von der Armee, Abzeichen, Militärwerkzeuge, russische Fotoapparate, Kaviardosen, Antiquitäten, Regime-Symbole usw. verkauften. So also bemerkte jener Journalist ein paar verklebte Papiere, die zwischen Aktendeckel aus brauner Pappe versteckt waren, bei denen es sich offensichtlich um Werke handelte, die vom russischen Konstruktivismus inspiriert waren. Als Signatur ließen sich die Initialen "K.W." entziffern.

Als der Journalist Interesse für diese Angelegenheit zeigte, bot ihm der Verkäufer an, am späten Nachmittag wieder zu kommen, damit er ihn in Richtung Dresden mitnehmen kÖnne, um sich noch andere Arbeiten dieser Sorte anzusehen. Dort, im Schein einer Lampe, die nur ein paar staubige Strahlen abgab, entfaltete sich ein Schauspiel aus Bildern aus der deutschen und polnischen Romantik und dem Expressionismus, sowie eine Anzahl von modernistisch inspirierten Porzellangegenständen, unter anderem aus Meissen, sowie Art Déco mit der Herkunft "Made in the USSR". Sie waren mit kyrillischen Signaturen gezeichnet, die für den Kunstliebhaber leider nicht lesbar waren.
Nicht zu Unrecht vermutete dieser nur, dass es sich hierbei um aus einem Museum entwendete Werke handeln kÖnnte; also blieb er misstrauisch. In einer Ecke waren zahlreiche Werke von Karl Waldmann gestapelt, denen der Verkäufer keine rechte Beachtung schenkte, da er vornehmlich an dem Verkauf seiner Porzellansachen interessiert war.
Nach Karl Waldmann befragt, hatte der Händler nicht viel zu sagen, außer dass dies ein alter Onkel gewesen sei, versehen mit dem Ausruf "Ach ja, der Verrückte!", und von dessen Verschwinden mit seiner Frau, einer russischen Künstlerin, er nur kurz erzählte. - "Das ist lange her, sie mussten alles zurücklassen". Der Mann war nicht sehr gesprächig, um nicht zu sagen, stumm, was das Thema dieses entfernten Cousins betraf. So gab es keinen Grund für den Journalisten, der nur eilig die Bilder kaufen wollte, noch Weiteres über das Leben von diesem "Waldmann" herauszufinden.

Um das Gesamt-Oeuvre zu erwerben, wurde für Februar ein Treffen im Curator Hotel in Berlin ausgemacht, einige der Arbeiten Waldmanns wurden sofort in einer großen Ausstellung gezeigt, die vom franzÖsischen Kulturministerium zu dieser Zeit unterstützt wurde. Diese fand in Strassburg statt: mit dem Titel "Berlin Berlin" (Februar 1990).

Diese Entdeckung blieb relativ unbekannt bis zum Jahr 2000, als sich der neue Besitzer der Werke, der sich währenddessen für deren Inhalt zu begeistern begonnen hatte, sich auf die Suche nach einer Galerie machte, um sie auszustellen.

Es folgten gründliche Nachforschungen durch die Galerie, die es ermÖglichte, Werke in Deutschland in der Dresdener Region wiederzufinden, sowie in Italien, Belgien, der UdSSR, in der Ukraine und in den USA. Heute sind mehr als 900 Werke inventarisiert, Werke von fantastischem bildlichen Reichtum, die von 1915 bis in die 50er Jahre reichen. Die Spuren ihrer Herkunft führten in den meisten Fällen nach Dresden.

Seit dem Jahr 2001 wurde die Frage nach dem Verbleib des Verkäufers wieder von Interesse, da dieser ja eine direkte familiäre Verbindung zu dem Künstler besaß und somit all jenes berichten kÖnnte, was der Journalist damals vor 11 Jahren nicht in Erfahrung gebracht hatte. Leider war es nicht mehr mÖglich, diesen Einwohner der Dresdner Umgebung ausfindig zu machen, und alle Schritte in diese Richtung waren bis heute ergebnislos. Es ist durchaus mÖglich, dass dieser "Onkel" inzwischen verstorben ist, wenn man sein bereits älteres Aussehen im Jahr 1989 in Betracht zieht.

Es bleibt außerdem zu präzisieren, dass sich im Zuge unserer Inventur die Werke als die von Karl Waldmann eindeutig identifizieren ließen. Einige von ihnen sind vollständig mit "Karl Waldmann" signiert, die Mehrzahl allerdings nur mit den Initialen "K.W.". Ob sich hier hinter die Absicht verbarg, seinen Namen zu verstecken? Jeder, der zu dieser Zeit im Osten gelebt hat, weiß, dass eine "Signatur" oder sogar ein "Datum" eine Gefahr für seine Sicherheit darstellen konnte.

Die Verwendung eines Pseudonyms war sogar sehr verbreitet. Ein Werk zu kreieren oder zu besitzen, das vom Regime nicht gebilligt wurde, bedeutete eine Abspaltung von den offiziellen Künstlerzirkeln. Insbesondere, wenn das Werk eine politische Kritik am Regime transportierte oder eine verdächtige künstlerische Ausrichtung (wie zum Beispiel Erotik) verkÖrperte, bedeutete dies eine echte Lebensgefahr für denjenigen. Um ein jüngeres Beispiel zu nennen: Der tschechische Fotograph Jan Saudek datierte seine Werke, die einen pornographischen Zug hatten, auf 100 Jahre vor ihrer Fertigstellung. Dies erlaubte ihm zu behaupten, dass sie nicht von ihm seien und er sie nur gefunden habe.

Wir hatten also 900 Fotomontagen, Gouaschmalereien und verschiedene Collagen - Originale oder Fotos davon - mit einer klaren Identität, mit einem perfekten Sinn für Konstruktion und mit einer einer Palette an FarbtÖnen, die Karl Waldmann von Schwitters, Heartfield, Haussmann, Rodchenko u.a. unterschieden, auch wenn sie ihnen in ihrer Thematik häufig sehr ähnelten.

Bis zum heutigen Tage besitzen wir keine näheren Informationen über sein Leben und seine PersÖnlichkeit. Aller Wahrscheinlichkeit nach war Karl Waldmann aus existentiellen und politischen Gründen kein Öffentlich bekannter Künstler, der sich auf eine bestimmte Schule berufen hätte, und der sich als solcher Öffentlich bezeichnet hätte. Die wenigen Informationen, die wir über ihn haben, stellen keinen Einzelfall in der deutschen Kunst dieser Zeit dar, die reichlich ähnliche Fälle vorzuweisen hat. Wir kÖnnen da das Beispiel von Else Lasker Schüler (deutsche Dichterin im Anfang des 20. Jahrhunderts) erwähnen, bei der es sehr schwierig ist, eine Skizze ihrer Biographie zu entwerfen, da nur wenige Daten und Fakten bekannt sind. Die Nazis haben nicht nur den grÖßten Teil der sie betreffenden Dokumente vernichtet, sondern auch die Zeugen - ihre Freunde - sind fast alle verschwunden. In Deutschland während der Herrschaft der Nazis und später in der DDR unter dem sowjetischen Regime, das bis 1989 andauerte, gab es wenig Chancen, eine politische engagierte Kunst zu schaffen. Sehr viele Künstler aus dieser Region, die ihre Kunst heimlich in ihren Ateliers schufen, werden für immer unbekannt bleiben. Die Nachkriegszeit und der Kalte Krieg stellten einen bleiernen Deckel für die Intellektuellen im Osten dar, und der Kult des Geheimen existiert bis heute. In der zeitgenÖssischen Malerei war dies ebenfalls der Fall. Noch am Tag des Mauerfalls wurden Hunderte von Künstlerateliers von Journalisten und anderen Kunstliebhabern aufgestÖbert, deren Entdeckung amerikanischen Sammlern regelrechte Festtage bescherte.

Es gibt noch ein weiteres Beispiel, dass sich aus einem anderen Bereich der Kunstgeschichte anzuführen lohnt: nämlich jenes vom "Verschwinden" des erotischen Kabinetts von Katharina II aus Russland (siehe den Film von Peter Woditsch), von deren Existenz mehrere Personen Beweise besitzen, und sich dennoch nach 1945 in Luft aufgelÖst zu haben scheint. Obwohl nur 50 Jahre vergangen sind, ist es heute ausgesprochen schwierig, verlässliche Informationen von direkten Zeugen oder von zeitgenÖssischen Konservatoren zu bekommen, so weitgehend, dass einige behaupten, dass dieses Kabinett, obwohl es real existiert hat, nicht mehr als eine Legende sei.

Auch ohne stichhaltige Einzelheiten aus der Biographie Karl Waldmanns verfügen wir doch über eine sehr schÖne Sammlung, die durch ihre Qualität beeindruckt. Ein fundiertes Studium wäre darüber nÖtig, um es uns durch Vergleiche und Verknüpfungen ermÖglichen würde, auf diese Weise ein "Phantombild" vom Esprit dieses Künstlers zu erstellen.

Dem Historiker oder dem Konservator, der sich mit dem biographischen Stoff der Biographie, würde ich antworten, dass wir die Werke besitzen und die intellektuelle Leistung nun darin besteht, sie zu verstehen, sie gelten zu lassen und sie zu zeigen, auch wenn dieses Verständnis nur ein bruchstückhaftes oder subjektives bleibt. - Sowie auch andere biographische Einzelheiten den Künstler in seiner eigenen Identität nicht zum Leben wiedererwecken kÖnnten.

Das Werk

Karl Waldmanns Werk ist ziemlich vielfältig und kann nicht mit nur einer einzigen Bewegung verbunden werden. Die Jugendwerke - abstrakte Kompositionen, die ihren Individualismus deutlich machen - sind den Collagen von Kurt Schwitters als Analogie verwandt sowie auch den frühen Collagen von Rodchenko oder Majakowski. Sie verwenden Zeitungsausschnitte, Papiere, Reklamezettelchen, Stoffreste. Diese Werke erinnern an die Bewegungen, die dem Suprematismus vorangingen. Es muss dabei im Gedächtnis behalten werden, dass K. Schwitters ebenfalls von 1913 bis 1917 in Dresden residierte und dass diese Stadt sowohl für deutsche als auch für russische Künstler ein Terrain des künstlerischen Schaffens und der Durchreise war.
Ebenfalls in Dresden befand sich das große ethnographische Museum, das einen Teil des Schaffens hin zu einer Rückkehr zu primitiven Formen ausrichtete oder wo zum Teil der Primitivismus sogar entstand (siehe Kirchner und Heckel). Diese Bemerkung ist von Wichtigkeit, da schwarze Statuen in mehrere Fotomontagen von Waldmann eine Rolle spielen und somit die primitivistische Rhetorik miteinbeziehen, die durch den Kritiker Carl Einstein 1915 entwickelt wurde. Durch seinen ethnographischen Blick sowohl auf die Form als auch auf das Sujet, realisiert auch Karl Waldmann die Vereinigung zwischen der Modernen Kunst und der primitiven Skulptur.

Nach dieser abstrakten Periode sind die Werke sehr bald konstruktivistisch, dadaistisch, und sogar surrealistisch inspiriert. Er widmet sich ausschließlich der Fotomontage, deren Urheberschaft man seit 1922 Raoul Hausmann zuschreibt. Diese Epoche ist sehr bewegt: zwischen dem Chaos des Ersten Weltkrieges und der Revolution, dem Hin und Her und den Gewaltausbrüchen während der Weimarer Republik ist der Nationalsozialismus im Entstehen begriffen, und die Oktoberrevolution in Russland feiert ihren Triumph. Karl Waldmann ist mit einiger Sicherheit ein Wegbegleiter der Revolution von 1917 und pflegt tiefgehende Bekanntschaften mit den russischen Künstlern, die sich ihr angeschlossen haben: Rodchenko, Majakowski, Lissitsky, Malevitch, Klucis, usw. Er ist niemals "propagandistisch” in seinen Werken - im Unterschied zu Heartfield - und das ist der Grund, weshalb uns die Bedeutung vieler Fotomontagen verborgen bleibt. Allerdings stellt er sich als "großer" Beobachter und Denunziant heraus. Der Künstler sieht, hÖrt, liest - und illustriert dann mittels der Collage seine Konzeption von der Politik, der Gesellschaft, der Kunst (Film, Literatur, Theater usw.). Die Kenntnis von all diesen Bereichen ist entscheidend für die intime Wahrnehmung von Karl Waldmanns Collagen.

Die Themen

Wie für die deutschen Expressionisten ist auch Waldmann das Thema der Stadt wichtig. Eine Stadt, in die sich die Modernität durch die Präsenz der Fabriken, der Schornsteine, der großen Gebäude, der Wolkenkratzer und des Rauchs einschreibt. Eine metallische Stadt, die in die KÖrper der Individuen eindringt, eine Stadt wie eine GÖttin - verzaubernd und unheilvoll zugleich. Im Unterschied zu den Futuristen, setzt Karl Waldmann die Modernität in den Vordergrund, allerdings um sie zu fürchten und sie anzuprangern.

Er ironisiert sie, ironisiert den "Wohlstand" und den Wert der "Fee der Elektrizität". Die Stadt und die Maschine werden als eine kriminelle und teuflische Einheit betrachtet. Wie viele andere aus seiner Generation ist Karl Waldmann fasziniert von Amerika, und das erklärt den Umstand, dass sich viele seiner Werke auf die Stadt New York beziehen, wo "Luftschiff", "Kran", "Waffe", "Elektrischer Stuhl" gegenwärtig sind, Vorläufer von dem Werk Andy Warhols: dies sind die Wurzeln einer Dschungel-Stadt, wo das Tragen von Anzügen obligatorisch ist. Die meist eingesetzten Farben sind Schwarz und Rot, die Farben des Todes und des Blutes.

Dieser Blick auf die Stadt und die Maschine lässt sich neben ein anderes sehr präsentes Thema in Karl Waldmanns Gesamtwerk stellen: das Kino. In mehren seiner Werke ist die Verbindung zu Fritz Lang ganz offensichtlich ("Metropolis", "M") oder auch zu Chaplins "Moderne Zeiten", "Lichter der Großstadt" oder "Der große Diktator". Die Schauspielerinnen, vor allem Amerikanerinnen, umkreist von Metall oder Rauchwolken kÖnnen als perfekte Ikonen des Konstruktivismus betrachtet werden: Marlene Dietrich, Katherine Hepburn, Ruby Keeler, Joan Crawford, Claudette Colbert, Brigitte Heim, usw. Diese Frauen von mächtiger Anziehungskraft machen die leidenschaftliche Beziehung Karl Waldmanns zum Kino deutlich.

So verstärkt die Präsenz dieser außergewÖhnlich ausdrucksstarken Schauspielerinnen noch ein weiteres Thema, das wiederholt auftritt: das Thema der "Frau" im Allgemeinen. Die Frau wird überall (in 300 von 900 inventarisierten Werken) als eine ehrgeizige Notwendigkeit dargestellt die an dem einzigartigen Abenteuer jeder einzelnen Fotomontage teilnimmt. In anderen Werken tauchen diskretere oder subtilere Frauendarstellungen auf, die jedoch nie ganz ihrer Hauptrolle entkommen.

Die Frau wird als SchÖnheit gesehen, die Frau als Propagandawerkzeug, die Frau, die sowohl von den Nazis als auch vom kommunistischen Regime als Vorbild für Tradition oder Revolution " benutzt " wird. Eine Frau, die häufig von einem großen Rad umgeben sind, als ob sie es sei, die die Welt weiterdreht oder diese anstelle der Diktatoren weiterdrehen müsste. Man darf nicht glauben, dass Karl Waldmann das Nazi-Regime und das sowjetische Regime auf eine Stufe stellte, ganz im Gegenteil. Aber dieses Thema der Frau, die meiner Meinung nach sein Werk in seiner Ganzheit strukturiert, findet sich in allen hier genannten Themen wieder und im weiteren Sinne ebenso in dem politischen Gehalt von Karl Waldmanns Werken.

Wenn auch nicht alles von Karl Waldmann strenggenommen politisch ist, muss doch jedes seiner Werke durch ein weites politisches und kulturelles Raster gelesen werden. Karl Waldmann ist auf jeden Fall ein engagierter Künstler, der vor allem Anderen auf der Seite der Nazi-Gegner zu verorten ist. Mehrere Werke geißeln also Hitler und seine Gefolgsleute und machen sich mit viel Zynismus über die Rassentrennung lustig. Sie weisen auf die Apokalypse und die angekündigte Chronik der Shoah hin. Einige Werke, die nach dem Krieg entstanden, zeigen auch die Shoah in einem eisigen Bildaufbau.
All das, was den Glanz oder das Grauen des Nazi-Regimes ausmacht - wie z.B. der KÖrperkult, die Musik, Wagner, Siegfried, die Architektur, die Maschine und die Kriegsfilme, die "EndlÖsung", Hannah Reich, die Rassenmedizin usw. - all das explodiert in seinen Kompositionen von architektonischer Präzision.

Wie auch Hannah HÖch verwendet Karl Waldmann Tiere in einer dadaistischen Perspektive, um Kritik herauszufordern. Überall gibt es Affen, armselige Primaten, die nicht denken und die vom Künstler in direkte Beziehung zu den Nazis gestellt werden.

Allerdings gilt es hier noch herauszufinden, ob das Tier tatsächlich den armseligen Primaten ohne Sprache symbolisiert oder ob es sich hierbei nicht vielmehr um eine klare Aufforderung des Künstlers zur Rückkehr zum primitiven Bewusstsein handelt.

Aber der von Karl Waldmann angeklagte Nationalsozialismus hat noch eine tiefer liegende Quelle, nämlich in der Ordnung und Sauberkeit, ja, in der Hygiene - des KÖrpers und des Geistes - die missinterpretiert von eben diesem Regime propagiert wird. Dies führt uns zu dem Thema der Hygiene, das Karl Waldmann sehr wichtig ist.

1912 entsteht ein Museum der Hygiene in Dresden. Es existiert im Übrigen bis heute. Seit Anfang des Jahrhunderts kommt die sanfte Medizin auf, Meerwasserund Schwefelbäder, Sanatorien, die Pflege, KÖrperkult und Aufmerksamkeit für den KÖrper verbreiten. Mehrere Fotomontagen spielen auf diesen Begriff der Hygiene an. 1930 findet eine große Ausstellung zu diesem Thema in besagtem Museum statt. Der russische Pavillon wird von Lissitsky realisiert. Das heutige Museum besitzt noch Dokumente zu dieser Ausstellung (obwohl die Stadt Dresden 1945 durch einen Bombenangriff fast gänzlich zerstÖrt wurde). Mehrere Fotomontagen illustrieren aber diese Ausstellung, indem sie Logos aus dieser Zeit verwenden. Wie man weiß, sollte dieser Begriff von der Hygiene bald von den Nazis umfunktioniert werden um, als "Rassenhygiene" zu enden.

"Normales Kind " nennt Waldmann eine seiner Fotomontagen, in der auf der einen Seite ein blondes Kind und auf der anderen Seite die " Hottentotten- Venus " (eine schwarze Frau, die in Paris ausgestellt war) zu sehen sind, und dazwischen: Adolf Hitler. Mehrere Werke prangern im Übrigen diese Medizin und die Rassentrennung an, in dem häufig schwarze Frauen dargestellt werden. Die Verbindung von Juden und Schwarzen geht bei Waldmann so weit, dass einige dieser Frauen HÖrner auf der Stirn tragen (wie bei einem Okapi oder wie Stoßzähne vom Elefanten) und erinnert so daran, dass die Darstellung von Moses diesen als Folge einer falschen Bibelübersetzung aus dem Hebräischen ins Lateinische nach der Entgegennahme der Gesetzestafeln mit HÖrnern zeigt und dies seit dem 15. Jahrhundert (siehe die Skulptur von Michelangelo). Es ist auch im Hinblick auf die Darstellung des Teufels in der christlichen Ikonographie zu einer antisemitischen Geste, einen Juden zu fragen, wo er seine HÖrner gelassen habe.

Dieses Thema der Hygiene, das zum Teil mit dem KÖrperkult verbunden ist, lässt sich auch in seiner Kritik am sowjetischen Regime wiederfinden, wo Paraden und PersÖnlichkeitskult das Leben der einzelnen Individuen und auch den Sozialismus im Allgemeinen entwerten. In seiner Kritik am Sozialismus ist Karl Waldmann zweifellos mit Rodchenko zu vergleichen, der, obwohl er offiziell anerkannter Künstler des Regimes war, aufgrund seiner Äußerungen über die Regierung niemals Zugang zu dem "hÖchsten Status" der Künstler in der UdSSR bekam. Er, der Zirkus und Luftakrobaten sehr liebte, schrieb 1939: " Vielleicht braucht der Sozialismus am Ende doch weder Bauchredner, noch Zauberkünstler, keine Jongleure, fliegende Teppiche oder Feuerwerke, keine Planetarien, Blumen oder Kaleidoskope". Er fragte sich, ob es in seinem Land nicht nur Platz für Politik und Propaganda für die Themen "von oben" gebe, sodass gar kein Raum mehr für Freude, Luftakrobatik, Licht und Bewegung bleibe. Diese Sicht der Dinge, diese Kühnheit, diese Offenheit und diese Frechheit, die wir auch bei Majakowski finden, sind auch bei Karl Waldmann vorhanden. Dieser macht auch widerholt auftauchende Anspielungen auf den Dichter, der 1930 Selbstmord beging. Falls Karl Waldmann Sympathisant der Revolution ist, bleibt er diesbezüglich doch ironisch. Besonders im Hinblick auf die Wendung, die sie mit der Zeit genommen hat. So ist auf einer Fotomontage die Polizeiakte von Stalin, der 1907 wegen Banküberfalls verhaftet wurde, zu sehen, zusammen mit einem feixenden Al Capone über seinem Kopf. Eine solche Fotomontage lässt uns unmittelbar verstehen, wie dieser "Verrückte", dieser "Karl Waldmann" in einem Lager enden konnte.

Erst vor Kurzem machte mich ein Freund von Karl Waldmanns Werk darauf aufmerksam, dass Karl Waldmann mÖglicherweise den Sozialismus auch feminisierte mit dem sich durch die Gesamtheit seines Werkes durchziehenden Thema der Frau, die um die "humanistische Hygiene" besorgt ist. So zeigt eine Fotomontage eine Frau, die Lenins Mund mit Lippenstift nachzieht. Diese überspitzt mechanisierte Frau trägt aber gleichzeitig einen Handschuh aus Stahl (oder einem dicken Stoff), der sie hygienisch vor der Berührung mit Lenins Mund schützt.

Karl Waldmanns Werke bearbeiten durchaus noch andere Themen: historische Fakten, Anspielungen auf Romane oder Gedichte, Frauen, die er besonders gut gekannt hat. "Diese liebe Hannah...", die er am Anfang eines Heftes erwähnt, das 20 Fotomontagen enthält; oder Saharet, eine Kabarett-Sängerin im Berlin der 30er Jahre. So reich wie dieses Werk ist und wie wenig fundierte Untersuchungen dazu betrieben worden sind, so schwer ist es, hier alles aufzulisten.

Einige sprechen in Bezug auf Karl Waldmann von einem "Mysterium" oder auch von bestimmten Werken, die absolut rätselhaft bleiben aufgrund eines fehlenden Textes oder eines "Zeichens" des Künstlers. Ich würde sein Werk jedoch eher mit einem "Roman" vergleichen, der wie ein Essay über den Wahnsinn des 20.
Jahrhunderts aufgebaut ist.